Das Ende oder ein neuer Anfang?

Er war alt, uralt - und zeitlos. Und nun, da der letzte bekannte Stützpfeiler seines Lebens fortgebrochen war, auch wenn es die dunkle Seite war, Sauron, der oberste Heerführer ihres Feindes Morgoth, spürte er sein Alter wie eine erdrückende Macht auf seinen Schultern. In einer scheinbar zeitlosen Welt in Elronds Haus hatte er seine Tage verbracht und doch hatte er ihre Zeit, seine Zeit, schwinden gefühlt.

Schön war er noch immer, der Noldo aus Tagen von Legenden, von hohem Wuchs, breiterem Körperbau als die Waldelben, einem warmen, feinen Elfenbeinton in der hellen Haut, das Haar schwarz, in der Sonne schimmernd wie Rabenschwingen, seine Augen von einem leuchtenden, fast kristallen wirkenden Türkis.

Er spürte seine Kräfte schwinden, nun, da nichts mehr blieb. Er war zu den Grauen Anfurten gereist, einer letzten Hoffnung folgend, doch der Ruf blieb aus. Sein Herz zog nicht fort gen Westen wie das der anderen Elben, er würde auch dort keine Ruhe und keinen Frieden finden. So war er weitergewandert, am Meeresstrand entlang nach Norden, noch einmal zurück zu den Resten der Lande, die er einst so gut gekannt hatte und deren Masse nach dem Krieg des Zorns von den Fluten Osses verschlungen worden war - Beleriand. Forlindon hieß heute der klägliche Rest, der noch westlich der Ered Luin überdauert hatte.

Dort hatte er sich schließlich auf einem Steilhang über dem früher nicht vorhandenen Küstenstreifen niedergelassen. Er sah auf das Meer hinaus, erinnerte sich der Lande, die dort einst gelegen und die er gut gekannt hatte, während er geduldig, wie es nur ein Elb sein konnte, auf das Ende wartete.

Er rührte sich nicht. Hätte sich nicht sein Haar in der Meeresbrise leicht bewegt, man hätte ihn in diesem Moment für eine aus Stein gehauene Statue halten können. Doch irgendwann schlossen sich seine Augen und er stimmte leise eines der Elbenlieder aus alten Tagen an, ein Lied voller Sehnsucht, das von Verlust und Trauer sprach.

Als es geendet hatte, erhob er sich und ging ein paar Schritte landeinwärts zu einem einzeln stehenden, alten Baum. Mit sanften Fingern brach er von diesem ein paar Blätter und kehrte zu dem Platz zurück, an dem er zuvor gesessen hatte. Er hatte Bogen, Köcher und sein leichtes Reisebündel dort abgelegt. Ein Bogenschütze war er immer gewesen, ein leichter Kämpfer, der außer dem Bogen noch ein langes Elbenmesser besaß, das auch in diesem Moment an seinem Gürtel hing.

Er kniete sich ab und band mit einem Stück Schnur aus einem seiner Beutel am Gürtel die Blätter behutsam an einen seiner Pfeile. Er erhob sich, spannte den Bogen und legte den Pfeil auf die Sehne. Kräftig zog er sie aus, so daß der Pfeil weit auf das Meer hinausflog, bevor er sich in die Fluten senkte. Ein letzter Gruß des Lebenden an die Toten des versunkenen Landes.
Der Noldo senkte den Bogen und sah schweigend noch eine kleine Weile auf die Stelle, an der der Pfeil verschwunden war, bevor er den Bogen wieder entspannte, neben seinem Köcher ablegte und an die Kante der Steilküste trat - bereit, seinem Pfeil zu folgen.

Der Wind hatte aufgefrischt, als der Noldo ohne seinen Bogen zurück an die Kante getreten war, stemmte sich gegen ihn, als wollte er den Elb zurückdrücken. Das Brausen der Brandung unter ihm klang wie ein wütendes, verzweifeltes Schreien. Doch er spürte es nicht mehr, hörte es nicht mehr, war innerlich schon gestorben in jenem Moment. Ganz leicht neigte er sich schon nach vorn, war einen Herzschlag davor, den Fuß zu heben, als sich hinter ihm jemand räusperte, ihm mit Worten in Sindarin grüßte.

Noch einige Herzschläge stand er ungerührt, doch der Fuß blieb auf der Erde. Dann wandte er den Blick und als dieser die Augen der Elbe hinter ihm traf, rührte sich etwas in ihm - etwas, das eine Spur Leben in seinen müden, ausgezehrten Blick zurückbrachte, völlig unbemerkt sogar ein kleines Lächeln in seine Mundwinkel zauberte.
"Elener silalin", erwiderte er den Gruß in der alten Zunge, `Ein Stern möge dir scheinen.´ Einige Herzschläge stand er noch so, sah sie einfach nur an, schien wieder Leben in seine alten Augen zurückzukehren.

Dann wandte er sich um - und in diesem Moment brach die Kante unter seinen Füßen. Ein bedauernder Blick traf die Elbe, ein Blick wie eine Entschuldigung, bevor er im nächsten Moment fiel, zwischen den Felsbrocken ohne einen Schrei, völlig lautlos in die Tiefe stürzte.

Eine Woge fing ihn auf, verhinderte, daß der Sturz zwischen die Felsen am Fuße der Steilküste tödlich endete, und schleuderte ihn doch nur einen Moment später gegen einen jener Felsen. Drei Rippen brachen, er zog sich einige Schürfwunden, mehrere schwere Blutergüsse am Rücken und eine üble Platzwunde am Hinterkopf zu. Er verlor das Bewußtsein und trieb nun zwischen den Felsen der Barriere, die jedoch verhinderten, daß er auf das Meer hinausgespült wurde - noch, solange der Sturm nicht stärker werden würde.

*Ein Stern scheint auf die Stunde unserer Begegnung.

Der Noldo rührte sich nicht, doch schwache Atemzüge verrieten, daß er noch am Leben war. Sein Körper fühlte sich durch die kurze Zeit im kalten Wasser bereits kühl an.

Und doch kam ihnen auch jetzt wieder der Zufall, oder das Schicksal zu Hilfe. Einer der wenigen Menschen, die noch in dieser Gegend lebten, ein Krabbenfischer mit seinem Korb voll von seiner Beute, eilte wegen des aufkommenden Sturmes den schmalen, steinigen Uferstreifen entlang. Aprupt blieb er stehen, als er der Elben angesichtig wurde, und zögerte einen Moment, wie alle Menschen schon seit einigen Generationen zögerten, wenn sie den selten gewordenen und gut verborgen lebenden Elben begegneten.
Doch schließlich faßte er sich ein Herz und fragte: "Braucht ihr Hilfe?"

Er war ein einfacher Mann, doch er kannte die Gegend gut. Als er die beiden Elben heraufgezogen hatte, befühlte er mit den Fingern kurz die frische Abbruchkante. "Der Fels ist an manchen Stellen tückisch", meinte er. "Das ist schon so manchem zum Verhängnis geworden."

Der Mensch richtete sich auf und betrachtete den Elbenmann, der kräftiger war, als er sich einen solchen je vorgestellt hatte, danach die recht zierliche Elbendame. "Ich kann euch euren Mann tragen, wenn ihr es erlaubt. Vielleicht könnt ihr dann für mich meinen Fangkorb mitnehmen. Die Ausbeute war heute vor dem Sturm sowieso nicht so gut, er ist also nicht so schwer."

Ein Mann und eine Frau allein hier draußen, dazu die Tatsache, daß sie ihr eigenes Leben riskiert hatte, um ihn zu retten, legte für den einfachen Fischer nahe, daß es sich um ein Ehepaar handeln mußte.

Der Fischer zog ein wenig den Kopf ein, als Ceridwen lachte, dachte er doch zunächst, er wäre ihr mit der Bitte, den Korb mitzunehmen, zu nahe getreten. Als er dann den wahren Grund erfuhr, machte er sich noch ein wenig kleiner. "Verzeiht, Herrin, ich wollte euch nicht zu nahe treten. Es machte nur den Eindruck..." Er verstummte lieber, bevor er noch eine Dummheit sagen würde.

Dankbar für den Themenwechsel nickte der Fischer eilig, als sie nach einem Heiler fragte. "Im Dorf, ich werde ihn sofort holen, wenn wir ihn ins Warme gebracht haben", sagte er diensteifrig. Er lud sich den Noldo mit Hilfe von Ceridwen auf den Rücken und stand auf. Nachdem sie noch die Sachen des Elben aufgesammelt hatte, machten sie sich auf den Weg. Der Mann schritt kräftig aus, so daß sie das Dorf rasch erreicht hatten. Er brachten den Noldo auf ein Zimmer des Gasthauses, das Ceridwen ihm wieß, dann eilte der Fischer davon, um den Heiler zu holen.

Wenig später kehrte er mit diesem zurück. "Ich grüße euch, werte Dame", grüßte der Heiler Ceridwen und wandte sich dann direkt dem Verletzten auf dem Bett zu. "Wir müssen ihn aus den nassen Sachen holen", sagte er, nachdem er die Temperatur gefühlt hatte. "Ich kenne mich zwar mit Elben nicht aus, doch ist es für kein Lebewesen aus Fleisch und Blut ein gutes Zeichen, wenn es so kalt ist." Mit einem Wink bedeutete er dem Fischer, ihm zu helfen und zügig befreiten sie den Schwarzhaarigen aus seinen nassen Kleidern. Einige Narben fanden sich an dem Körper, doch nicht übermäßig viele. Als Bogenschütze hatte er nie in der ersten Schlachtreihe gestanden.

Der Heiler drehte den Elben mit Hilfe des Fischers behutsam auf den Bauch, als er bemerkt hatte, daß sich dessen Verletzungen auf der Rückseite befanden. Behutsam schob er die Haare zur Seite und legte die üble Platzwunde am Hinterkopf frei. "Die muß ich nähen", sagte er konzentriert und befühlte sich dann behutsam einen sehr üblen Bluterguß am Rücken, in Höhe der Rippen. "Das ist nicht gut. Die Rippen sind gebrochen. Ich muß unbedingt Druck von der Stelle nehmen..."

Umgehend begann er mit der Behandlung, machte einen kleinen Schnitt in den Bluterguß und fing das Blut auf, das hervorquoll. Als dieses aufgehört hatte zu rinnen, wandte er sich als nächstes der Platzwunde am Kopf zu, rasierte die Haare darum und nähte sie. Dann legte er noch einen festen Stützverband um den Brustkorb des noch immer bewußtlosen Noldo, bevor er diesen mit mehreren Decken zudeckte.

Er wusch sich an der Waschschüssel das Blut von den Händen, als er sich nun an Ceridwen wandte. "Ich habe leider noch keine Erfahrung mit eurem Volk gemacht, doch bei einem Patienten von unserem Volk würde ich sagen, die kleineren Blutergüsse und Schürfwunden werden von selbst heilen. Auch die Wunde am Kopf ist sauber, doch die Rippen brauchen ein wenig mehr Zeit. Was er nun vor allem braucht, ist Ruhe und Wärme."

Der Heiler hob eine Augenbraue, als er sich die noch deutlich feuchten Kleider der Elbe betrachtete. "Und ich würde meinen, auch ihr solltet euch etwas Trockenes anziehen und euch aufwärmen." Er trocknete sich die Hände ab. "Ich werde morgen wieder nach ihm sehen. Ich denke, sein Körper wird ihn noch ein wenig in Ruhe halten, bei einem Mensch wäre das jedenfalls so. Also sorgt euch nicht zu sehr, wenn er noch eine Weile schlafen wird. Sollte irgendetwas sein, laßt nach mir schicken."

"Ich bin doch kein Herr", meinte der Fischer und war nun sichtlich verlegen, schließlich wollte er nicht bezichtigt werden zu behaupten, mehr zu sein als er war. "Nur ein einfacher Fischer."

Doch der Heiler sprach Ceridwen noch nicht auf eine Entlohnung an. Und der Fischer würde sowieso nicht nach Geld dafür fragen, daß er jemanden in Not einen kleinen Dienst erwiesen hatte. So nahm der Krabbenfischer seinen Korb und die beiden Männer verabschiedeten sich für den Moment.

Eine kleine Weile später klopfte es noch einmal an der Tür und nach Aufforderung trat der Wirt des Gasthauses ein. "Verzeiht die Störung", sagte er. "Unser Heiler hat mich beauftragt, ein ordentliches Feuer in eurem Zimmer zu schüren und euch eine Brühe zu bringen." Nun ging doch einmal ein neugieriger Blick des Mannes zu dem Bett, wo unter den Decken der fremde Elb ruhte, von dem der Heiler gesprochen hatte. Dann stellte er das Tablett mit einer Schale voll dampfender Brühe und einem Krug angewärmten Metes auf dem Tisch im Zimmer ab und ging daran, ein wärmendes Feuer zu entfachen. Als die Arbeit erledigt war, verabschiedete sich der Wirt äußerst höflich und zog sich zurück.

Der Noldo schlief noch die ganze Nacht. Doch wurden seine Atemzüge ruhiger und tiefer, nachdem die Behandlung vorbei war und die Wärme ihn wieder durchströmte, und er glitt von der Bewußtlosigkeit in einen heilenden Schlaf hinüber. Am frühen Morgen rührte er sich zunächst leicht, doch ohne einen Laut, bevor er etwas mühsam die Augen aufschlug. Sein Kopf dröhnte und von seinem Rücken aus schien sich ein stechender Schmerz über seinen ganzen Körper auszubreiten. Sein Blick war in diesem ersten Moment noch getrübt.